Ein erster Kuss

Leseprobe

Bei dem Hausherren handelt es sich offensichtlich um Sean Taylor – oder Shane, wie seine Freunde ihn immer genannt haben. Sein schwarzes, fülliges Haar zeichnet sich klar vor dem hellen Gebäude im Hintergrund ab. Er trägt ebenso Jeans wie ich, nur dass seine wesentlich besser geschnitten ist.

Ich habe mich für das Modell Karotte entschieden, während er zur modischeren Variante gegriffen hat. Ein Pfiff ertönt und die Hunde machen sich sofort zurück auf den Weg zu ihrem Herrchen. Ich zoome ihn so nah wie möglich heran und stelle fest, dass er ein dunkelblaues Hemd trägt. Während er immer näher kommt, zoome ich Stück für Stück weiter, um ihn immer im Blick zu haben. Er begrüßt meine Mutter, und sein Blick fällt kurz auf mich, was ich aber nur durch das Display sehen kann. Ich nehme sein Gesicht in Großaufnahme und stelle fest, dass er älter geworden ist, was nach den vielen Jahren kein Wunder ist. Von Pickeln keine Spur mehr, aber der Hügel seiner Nase beweist es eindeutig – der Mann ist Sean Taylor. Soweit ich weiß, hat er sich bei einer Prügelei die Nase gebrochen und musste operiert werden. Fasziniert verfolge ich das Spiel seiner Gesichtszüge, während er sich lächelnd mit meiner Mutter unterhält.

Wow.

Und da fällt es mir wieder ein. Er hatte es schon damals gehabt, dieses gewisse Etwas, das ich als Neunjährige nicht richtig beschreiben oder zuordnen konnte, obwohl ich es gespürt habe. Sean Taylor hat diese Präsenz, die nahezu magisch ist und bis in mein Innerstes wirkt.

Ich schreie auf, weil einer der Hunde an der Scheibe hochspringt, um zu sehen, wer im Auto sitzt.

»Paula hat Angst vor Hunden«, höre ich meine Mutter sagen.

Nein! Hoffentlich kommt er jetzt nicht her. Ich lasse die Kamera auf meinen Schoß sinken und starre sie an. Sean ruft seine Hunde zu sich, und da der Gärtner in der Nähe ist, gibt er ihm die Hunde mit, die auch sofort folgsam hinter dem Mann hertrotten. Sean sperrt meiner Mutter das Haus auf und sie verschwindet sofort darin. Gerade als ich langsam aus dem Auto aussteigen will, kommt Sean zurück und geht zielstrebig auf meine Seite des Wagens zu. Er wirft mir kurz einen Blick durch die Scheibe zu, ich sehe weg, und öffnet dann die Autotür. Ich kann mich einfach nicht rühren. Es ist ein Ding der Unmöglichkeit für mich. Selbst als Sean etwas zu mir sagt, kann ich nicht den Blick von der Kamera auf meinem Schoß nehmen.

»Die Hunde sind jetzt weg. Ich werde sie anketten, solange du hier bist«, sagt Sean.

Mein kräftiges Schlucken muss wohl für jeden zu hören gewesen sein und ich nicke ganz leicht. Sean macht allerdings immer noch nicht den Anschein, als hätte er es besonders eilig, ins Haus zurückzugehen. Er geht neben mir in die Hocke, und es fällt mir immer schwerer, ihn nicht anzusehen.

»Einen schönen Fotoapparat hast du da«, höre ich ihn plötzlich raunen.

Wieder schlucke und nicke ich nur.

»Hast dein Hobby nicht aufgegeben, wie es scheint«, stellt er fest und fügt hinzu: »und genauso schüchtern bist du auch immer noch.«

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